Glaubenskampf und Fortschrittswahn

Stuttgarts Noch-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sprach in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur davon, der Aktionskreis gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21 hätte es geschafft, einen „Glaubenskampf zu initiieren“. Eine solch perfide Verdrehung der Tatsachen hört man selbst in Politkerkreisen nur selten, obwohl auch bei uns die Spin Doctors nach amerikanischem Vorbild mehr und mehr die politischen Meinunsäußerungen bestimmen und zum Beispiel Wahlniederlagen gerne als hohen Sieg verkaufen.

Die Gegner des Bahn- und Städtebauprojekts Stuttgart 21 (S21) sind mehrheitlich gut informierte Zeitgenossen aus allen Altersschichten. Sie Besuchen Vorträge, lesen Gutachten und machen sich Gedanken über die Zukunft der Stadt und der Region, teilweise sicher auch aus persönlichen Gründen, etwa weil sie Pendler sind und gerne auch in Zukunft auf den Bahnverkehr zurückgreifen würden, diesen sogar als besonders wichtig für eine weitere Entwicklung unserer Region ansehen.

Während die Zahl der Gegner nicht zuletzt aufgrund der unaufhörlich bekannt werdenden, oft geheim gehaltenen Gutachten, die Engpässe, Risiken und Gefahren des Projekts offenlegen, stetig wächst, gibt es auch einen harten Kern eiserner Projektbefürworter, die ihre Meinung über S21 vorwiegend von Werbeversprechen der Projektbeteiligten herleiten und diese teilweise ungefragt übernehmen, zum Teil sogar noch verklären. Sie scheinen einem ominösen, geradezu religiös überhöhtem Gebilde namens „Fortschritt“ anzuhängen, beschwören das Ende der Region Stuttgart als Wirtschaftsstandort herauf,die Stadt selbst sehen sie bei ausbleibender Stadtuntertunnelung bereits von Europa abgeängt (hier ist vor allem die für unsere Region ach so bedeutsame Metropole Bratislava als Endpunkt der von Paris kommenden Magistrale hervorzuheben). Der sogenannte Forschritt, der das Projekt in den Augen der Befürworter selbst bei unausweichlichen Kostensteigerungen rechtfertigt, wird selten näher erläutert (und wenn dann vorwiegend durch geschönte Rechenbeispiele, wie etwa Fahrtzeitverkürzungen von X nach Y, denen zumeist unrealistische Fahrplanannahmen zu Grunde liegen) während tatsächicher Nutzen nicht hinterfragt wird und eventuelle Risiken entweder ausgeblendet oder aber gleich als „fortschrittsfeindlich“ – und somit in ihren Augen schon quasi gotteslästerlich – verurteilt werden.

Doch zurück zu Noch-OB Schuster: in dem DRadio-Inverview spricht er mehrfach von „seinen“ Bürgerinnen und Bürgern und bringt damit eine weitere Beobachtung auf den Punkt, der viele Menschen so zornig macht und sie auf die (in Stuttgart bereits buchstäblichen) Barrikaden bringt: Schuster scheint den Wähler geradezu als Untertanen anzusehen, der gerne alle 4-8 Jahre sein Kreuzchen auf dem Wahlschein machen darf, danach aber bitte das Maul zu halten hat. Er verkennt die Dimensionen des Protests, der teilweise belächelt und verharmlost, teilweise aber auch von Politikern und Medien noch verteufelt wird, etwa als völlig unbegründet behauptet wurde, eine Frau sei aufgrund einer Straßenblockade nicht rechtzeitig von Rettungswagen erreicht worden und deshalb an einem Herzinfarkt verstorben. Die Absicht hinter solchen Kampagnen ist natürlich klar, es geht darum, Menschen die am Projekt S21 zweifeln, davon abzuhalten, sich aktiv am Protest zu beteiligen. Doch diese Strategie scheint nicht aufzugehen: jedesmal strömen mehr Menschen zu den Großdemonstrationen gegen S21, zuletzt waren es am Freitag, 3. September laut Zählungen mehr als 60.000 Menschen.

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